Märchen

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Rotkäppchen

Südlich in des dunklen Waldes Schatten,

dort wo Bauern ihre Äcker hatten,

stand dereinst vor langer, langer Zeit,

eine Hütte der Behaglichkeit.

 

Jeder kannte damals jene Leute

die dort wohnten und das Herz erfreute

Vater, Mutter, Kind und allerlei

Blumen. Tiere waren mit dabei.

 

Ihrem Mädchen war es oft zu eigen,

stets mit rotem Käppchen sich zu zeigen,

das einst von der lieben Mutter kam.

Als Geschenk das Kind es gerne nahm.

 

Auch ein rotes Jäckchen war vorhanden.

„Wie schön“, alle guten Leute fanden.

„Rotkäppchen“ man sie fortan nannte,

weil nichts dagegen sie einwandte.

 

Eines Tages, als die Sonne lachte,

sagte ihre Mutter: „Hör, ich dachte,

daß du Oma könnt’s im Wald besuchen.

Bring ihr roten Wein und süßen Kuchen.

 

Sicher wird sie sich darüber freuen

und auch dir, mein Kind, wird es nicht reuen,

ihr mal wieder diesen Dienst zu leisten.

Lang ist’s her, daß wir mal hin verreisten.“

 

Allzugern erfüllt das Mädchen diesen

Rat, denn wirklich tat sie oft genießen

bei ihrer Großmutter zu verweilen.

Zog sich schnell an, um zu ihr zu eilen.

 

Dazumal gab es noch Autos keine.

Wer da mal wollte weg, der nahm seine

Beine und ‘nen Wanderstock dazu.

War nicht leicht, doch herrschte vielmehr Ruh‘.

 

Bevor ‘s Mädel jedoch ging spazieren,

wollt die Mutter sie noch instruieren,

daß sie auch ja nicht abgeht vom Weg

und nicht erst heimkehrt, wenn es zu spät.

 

Nachdem die Maid dem hat zugestimmt,

sie schnell ‘s Körbchen für die Oma nimmt.

Wie ein schöner lauer Sommerbraus

ist sie auch schon aus dem Haus hinaus.

 

Noch lacht die Sonn und die Wolken ziehen

wie Schäfchen, doch ohne sich zu mühen

übers strahlend blaue Himmelszelt.

Was gibt es schön‘res auf dieser Welt.

 

Im Wald selbst, das strahlt der Sonnenschein.

So fühlt sich ‘s Mädel auch nicht allein.

Es stimmt ein munteres Liedchen an

und kommt somit Schritt für Schritt voran.

 

Nun ward langsam der Baumbestand dichter,

das Mädchen glaubte, es sah Gesichter.

Dennoch hat sie weiter frohen Mut.

Sang ein neues Lied. Schon ward ihr gut.

 

Doch an einer grünen Wiese dann,

hielt ein grauer Wolf sie schmeichelnd an.

Wohin sie denn heute so schnell eile?

Ob sie nicht mit ihm ein Stück verweile?

 

„Lieber Wolf, ich muß dir leider sagen,

was die Mutter mir hat aufgetragen.

Daß ich nicht mit fremden Leuten gehe.

Sei nicht bös. Sie meint’s nur gut. Verstehe!“

 

„Ist schon recht, von deiner lieben Mutter.

Auch mir rät man es, such ich mir Futter.

Jägern sollt ich aus dem Wege schleichen.

Hoffe doch, ‘sie liegen nicht bei ’n Eichen.“

 

„Sei ohne Angst, du mein lieber Grauer.

Jäger liegen anderswo auf Lauer.

Nun muß ich allerdings weitergehen.

Will doch nach meiner Großmutter sehen.“

 

Obgleich dem Räuber tropfte der Zahn,

hielt er noch Stand seinem Blutrauschwahn.

‚Vielleicht, wenn ich sie jetzt verschone,

freß Oma erst und sie zum Lohne.‘

 

„Mir scheint zunächst“, sprach der Wolf so weiter.

„daß ‘n brave Maid du bist und heiter.

Dennoch muß ich dich auch etwas schelten.

Weißt, nur Blumen schmücken Omas Welten.

 

Doch hast du Glück, hier wachsen so viele.

Für mich, Kind, such ich andre Ziele.“

Schon war der graue Räuber verschwunden

und das Mädchen dacht: „Die paar Sekunden.“

 

Sie sprang vom Weg ab und zu den Blüten.

Genau dorthin, wo Bienen sich mühten.

Sammelte dort nicht nur einen Strauß.

Nahm noch den zweiten für ihr lieb Zuhaus‘.

 

Als dann ein Windhauch durchs Wäldchen wehte,

sah das Mädchen erst, es war schon späte.

Raffte zusammen, was sie so hatte.

Vergaß auch nicht ihre Wanderlatte.

 

Zur Hütte war Isegrim gekommen

und hatte Großmutter sich genommen.

Als dann das Rotkäppchen dort eintraf,

glaubt es zunächst die Frau im Schlaf.

 

„Warum hat sie die Tür aufgelassen?

So sorglos, die Oma. Nicht zu fassen.“

Die Enkelin hört Schnarchen im Bett,

dachte: ‚Blumen im Glas wären nett.‘

 

Sobald dieses auf dem Tische stand,

nahm die Maid den Vorhang in die Hand,

zog ihn langsam Stück für Stückchen auf;

sah wenig drunter, weil Decke drauf.

 

Was sie sah, schien wenig ihr zu taugen:

„Oma, was hast du für große Augen?“

Darauf sprach der Wolf, was er ersann:

„Kind, daß ich dich besser sehen kann.“

 

„Und sag mir doch, lieb Großmütterlein,

welch große Hände hast, kann das sein?“

Der Wolf verspürt ein Ziehen im Nacken:

„Damit ich dich so besser kann packen.“

 

„Oh, Graus! Wie groß ist mir erst dein Mund?“

Nichts hielt den Wolf mehr. In seinen Schlund

warf er das Mädchen mit einem Biß:

„Zum Fressen taugt er, das sei gewiß!“

 

Jetzt war der Bauch voll, ganz bis zum Rand.

Selbst für den Wolf war es allerhand,

so daß er sich erst mußt schlafen legen.

Begann sogleich heftig an zu sägen.

 

Nun trug es sich zu, nach diesen Dramen,

daß zufällig die Jäger vorbeikamen.

Sie hörten in der Hütte Rumoren

und schenkte kaum Glauben ihren Ohren.

 

„Ei, was hat denn die Alte heut bloß?

Grad, als läg ein Wolf auf ihrem Schoß.“

meinte ein Jäger zum dem andern.

„Komm, laß uns in das Haus hinein wandern.“

 

Kaum warn sie drin, sah'n sie die Bescherung,

da half auch keine Jagdschutzbelehrung.

Mit dem Hinweis auf des Wolfes Wanst:

„Versuch du, ob du ihn schneiden kannst.“

 

Die Hirschfänger waren schnell gezogen

und mit gekonnt vorsichtigen Wogen

war des alten Wolfs Bauchfell durchtrennt.

Rotkäppchen und Oma im Nachthemd

 

sprangen heraus und waren putzmunter.

Was für ein Glück und was für ein Wunder.

Doch was sollt mit dem Wolfe nun werden?

Hat er nicht viel verbrochen auf Erden?

 

Ist es nun aus mit der Waldräuberei?

Sind alle Tiere im Jagen jetzt frei?

Können die Menschen ruhig nun schlafen?

Droht kein Unheil den Ziegen und Schafen?

 

Gewiß machten sie dem Wolf den Garaus

und nahmen das graue Fell mit nach Haus.

Großmutter hat’s Haus dann abgeschlossen

und drinnen Kuchen und Wein genossen.

 

Rotkäppchen machte sich auf den Weg

nach Hause. Grade aus und nicht schräg.

Und als sie dann dort ist angekommen,

wird sie geküßt und ans Herz genommen.

 

So denn, ihr lieben Mägdelein,

laßt euch das wohl ‘ne Lehre sein.

Geht nicht vom rechten Wege ab.

Sonst geht’s euch wie dem Wolf, schnipp schnapp!

 

 [2009]