Märchen

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Dornröschen

 

Will man den einen Geist verehren,

darf man dem andren ‘s nicht verwehren.

Denn, was dem einen recht und billig,

gilt für den andren auch. Sei willig,

 

damit es dir nicht so ergeht,

wie es in einem Märchen steht.

Darin wurde den Leuten bange,

weil Königshaus ohn‘ Erben lange.

 

Doch eines Tags, kurz vor dem Schluß,

kam Königspaar zu Kindgenuß.

Und wie es damals üblich war,

hielt Taufe man im gleichen Jahr.

 

Man lud ein mehr als tausend Gäste.

Sie kamen alle auf die Feste,

die aufgebaut auf einem Hügel.

Dort feierten sie ohne Zügel.

 

Nun gab es damals dreizehn Feen,

die sollten auch zur Taufe gehen.

Zu sein dem Mädchen guten Paten;

allzeit zur Seite steh’n mit Taten.

 

Um ihnen Ehrfurcht anzuzeigen,

wollt‘ man nicht nur die Köpfe neigen.

Ein extra goldenes Gedeck

erschuf man just zu diesem Zweck.

 

Doch welcher Schock fällt auf sie nieder!

Das Porzellan hat nur zwölf Glieder.

Dem Königspaar ist nicht zum Lachen.

Sie fragen sich: „Was soll man machen?“

 

Narr tritt hervor als Schicksals Meister:

„Wir laden ein nicht dreizehn Geister.

Wenn man bedachtsam denkt und wählt,

fällt es nicht auf, wenn eine fehlt.“

 

Bekannt ist weit im Königsland,

daß Narren oft mit mehr Verstand

als andre ausgestattet sind.

Zwölf Paten nur bekommt das Kind.

 

Die Auswahl hat man schnell getroffen,

für die die Festlichkeit ist offen.

Und kaum, daß man die Zahl gezogen,

kommen zwölf Feen angeflogen.

 

Im Kreise steh‘n die weisen Frauen,

den Sproß im Korb sich anzuschauen.

Mit einem Zauberstabe fein

beschenken sie das Kindelein.

 

Die erste spendet Hab und Gut,

die zweite gibt ihr reichlich Mut

und Nummer drei ihr Schönheit gar.

„Gesundheit für sie jedes Jahr“,

 

wünscht ihr die vierte Fee ganz hold.

Die fünfte ihr ein Herz aus Gold.

Können und Wissen wird verschrieben

von den Paten sechs und sieben.

 

Acht und neun und zehnte Fee

wünschen ihr auch viel. Juch-he!

Als allerdings die elfte Mutter

wünschte dem Mädchen reichlich Futter,

 

da donnert es und Blitze sprühen.

Die Gäste ängstlich sich verziehen.

Und aus einem Gespinst aus Rauch

erscheint die dreizehnte nun auch.

 

„Also, ihr dummen Menschenkinder,

ihr wollt den Sommer nur, nicht Winter.

Euch Weh‘, daß ihr mich stolz verschmäht!

Für Reue ist es längst zu spät!

 

Ausfallen sollten euch die Haare.

Doch dieses Kind, wenn siebzehn Jahre,

beim Spinnen sticht sich in den Finger.

Dann schläft sie ein – erwachet nimmer!

 

Dieses soll nun sein meine Rache!“

Sprach‘s und verschwand mit einem Krache.

Hingegen lautlos alle Leute.

Sie fühlte sich wie Hexenbeute.

  

In diese Welt der Totenstille

verkündet die zwölfte: „Mein Wille

kann diesen bösen Fluch nicht bannen,

nur lindern, schwächen. Hört ihr Mannen

 

und Frauen, höret mir gut zu.

Nicht immer – hundert Jahre Ruh.“

Kaum haben alle dies vernommen,

sind weg die Feen, wie sie gekommen.

 

Da brüllte einem Löwen gleich

der König durch sein ganzes Reich:

„Von heute an, ihr lernt mich kennen,

im Feuer alle Spindeln brennen!

 

Kein Spinnrad mehr gibt es im Land.

Wer eins behält, wird mit verbrannt.

Und gibt es keinen Stoff zu kaufen,

dann werden wir halt nackt ‘rumlaufen.“

 

Wie es der Landesfürst befohlen,

so mußten alle Leute holen

ihre Spinnräder aus dem Hause.

Die Büttel machten keine Pause.

 

Weil man bedroht sie mit dem Tod,

gab jeder hin, trotz großer Not.

So war nach knapp zweihundert Stunden

das letzte Rad im Land verschwunden.

 

Nun lief die Zeit im Fluge weiter.

Mal war es traurig, mal war’s heiter.

Dem König wurden grau die Haare

und seine Tochter siebzehn Jahre.

 

Als erste gratuliert die Zofe,

wie üblich an des Königs Hofe.

Jetzt gibt es Frühstück, das heut‘ mundet,

indes die Katz den Stuhl umrundet.

 

Danach empfängt sie die Geschenke

und geht zum Spielen an die Tränke,

die dort im Burghof steht schon immer

und die man sieht aus ihrem Zimmer.

 

Jetzt fragt man sich, was wohl geschah,

weshalb die Eltern sind nicht da

an jenem bösen Jubeltage.

Es war ein Fehler, keine Frage.

 

Denn wie die Kinder nun mal sind.

Was sie nicht kennen, wo noch blind

ihr Wissen ist, da woll’n sie gehen,

nach Ursache und Wirkung sehen.

 

Wie es auf vielen Burgen Brauch,

hatte des Königs Festung auch

so einen alten schiefen Turm.

Die Tür dazu zernagt vom Wurm.

 

So hat das Mädchen keine Mühen,

die Tür zu drücken und zu ziehen,

als sie beschließt, ihn zu erkunden,

den Turm. Noch hat sie Zeit drei Stunden,

 

sie hält es für ein kindlich Glück,

bis ihre Eltern sind zurück.

Aus Holz die Stufen knarren leise,

wenn sie die Füße schickt auf Reise.

 

Mit ihren Händen wischt sie fort,

Spinnweben, die hier sind am Ort.

Wirft immer mal ‘nen Blick hinaus,

aus schmalen Fernstern. Sieht ihr Haus.

 

Die Treppe ist nun hier am Ende.

‘ne weitre Tür durchbricht die Wände.

Auch sie läßt sich vom Mädchen zwingen,

Das hört ein seltsam Surren klingen.

 

Dann tritt sie in die Bodenkammer.

Sieht alte Möbel, Beil und Hammer.

Schaut alte Decken, Säcke, Seile

und noch mehr Krimskrams; Langeweile.

 

Doch was ist das? Das sitzt ein Weibchen.

Hat Blüschen an und bunte Leibchen.

Zwischen ihren berockten Knien,

sieht’s Mädel sie ‘nen Faden zieh’n

 

aus einem lustig schnellen Ding.

Prinzessin gäbe ihren Ring

wenn sie das dürfte einmal nur.

Das Weibchen reicht die Spindelschnur

 

ihr und zeigt, wie man es bewegt,

das Rad wenn es sich mal nicht dreht.

Auch weist sie jenes Mägdelein

ins Wechseln jener Spindel ein.

  

Doch grad als sie das Garn berührt,

die Fee die Nadel zu ihr führt,

damit sie sich daran auch sticht.

Das ist kein Wunder, bei dem Licht.

 

Just im fraglichen Augenblick

kehrt König auf den Hof zurück.

Mit seiner Frau, der Königin,

setzte er sich auf den Thronstuhl hin.

 

Da wird dem Mädchen müd zu mute.

Sie sieht den Finger, „Oh, ich blute.“

und legt sich auf die Couch zum Schlafe.

Die Alte meint: „Das ist die Strafe!

 

Und ehe nicht ein Königssohn,

stets hilfsbereit, auch ohne Lohn,

in diesen alten Turm eintritt

sollst schlafen du und alle mit.“

 

Es fällt nun jedem auf dem Schloß

das Auge zu. Ob Mensch, ob Roß,

ob all die Tauben auf dem Dach.

Nicht einmal eine Maus bleibt wach.

 

Koches Hand in der Bewegung

hin zum Burschen stille Regung.

Brunnens Wasser friert zur Säule.

Einhält gar Kartoffelfäule.

 

Nur jene Rosen auf dem Wall

bewachsen schneller ohne Zahl

die alte Burg mitsamt dem Hang.

Nicht mal der kleinste kommt hier lang.

 

Die Hecke wächst und Dornenspitzen

sich tief ins Fleisch des Räubers ritzen,

der sich erdreistet ohne Not

ihr nah zu kommen. Schon ist tot

 

ein jeder Mann, selbst reiche Prinzen.

Im Grünen die Gerippe grinsen.

So fließen dreißigtausend Tage.

Vom Schloß erzählt nur eine Sage.

 

Und niemand weiß, ob Wahrheit ist

was man erzählt, ob Hinterlist

die Fremden in den Wald will locken,

zu rauben ihnen nicht nur Socken.

 

Man sprach dereinst zu später Stunde

zu einem Prinz in froher Runde

vom Dornröschen hinter den Hecken.

Der Herr glaubt erst, man will ihn necken.

 

Doch als er dieses öfters hörte,

man es ihm sozusagen schwörte,

da zog er los auf große Reise,

zu finden Widerspruch / Beweise.

 

So kam er auch mit einem Mal

ins rosenvolle Jammertal.

Dort trifft er eine alte Frau.

Ich glaub, wir kennen sie genau.

 

Sie fragt und prüft ihn sonderbar.

Es sind grad um, die hundert Jahr.

Doch weil er ist ein braver Mann,

hilft oft und gern, wo er nur kann,

 

zeigt ihm die Frau zum Lohn die Stelle,

wo, wenn er’s Schwert benutzt, wird‘s helle.

„Wenn ich hier diesen Schlag ausführ …?“

„… dann öffnet sich für dich die Tür.“

 

So hob er schnell mit beiden Händen

das Schwert, das Sperren zu beenden

und schlug gezielt, wie er‘s gelernt,

in das Gestrüpp, das bald entfernt.

 

Als er sich dann zur Frau umdreht,

das Weibchen er nicht mehr erspäht.

Zuckt mit den Schultern und geht weiter,

ist aufmerksam, doch gleichfalls heiter,

 

weil hinter diesem Rosengarten

auf ihn die schönsten Früchte warten.

Der Hof, bedeckt von allen Farben,

die freilich nun langsam abstarben,

 

zeigt ihm den Weg zum Turme hin.

Nichts andres hat der Prinz im Sinn.

Steigt auch die Treppe in die Höhe,

damit er das Dornröschen sehe.

 

Sie liegt noch immer wunderschön

wie grad entschlummert, läßt sich sehn.

Er beugt sich zu dem Mädchen nieder;

küßt ihren Mund. Es hebt das Mieder

  

sich mit dem ersten Atemzug.

Die Augen sehen kein Betrug,

denn fürwahr ist der Prinz hier echt.

Die Schmach der Fee ist nun gerächt.

 

Auch ringsum in des Königs Hause

beendet alles seine Pause.

Ein jeder setzt, was er begann,

nun fort, wie man hier sehen kann.

 

So spürt der Bursche Koches Hand,

die Tauben fliegen aus dem Stand,

Das Wasser füllt den Brunnen neu

und auch die Pferde fressen ’s Heu.

 

Der Prinz Dornröschens Hand jetzt nimmt

und führt zum König sie bestimmt,

damit er sie und ihn verbindet.

Das Glück sich um die beiden windet.

 

Erneut beginnt ein großes Fest.

Vom Rosenwald bleibt nur ein Rest,

der feierlich geziemt als Mahnung,

daß jeder hiervon hat ‘ne Ahnung.

 [2009]